Adventmarkt 2

Es ist schon eine sonderbare Sache. Von allen Schrecklichkeiten, die der Platz zwischen Wiener Rathaus und Burgtheater über das Jahr verteilt so bietet an panem et circenses, erschlägt mich jedes Mal aufs neue die konzentrierte Geschmacklosigkeit des Adventsmarktes am heftigsten. Dabei ist diese die vielleicht konsequenteste - das ist wohl das Problem - Veran- und -unstaltung, ist doch wirklich, wie mühsam choreografiert, beinahe alles davon zum Kotzen. Wo der Punscharomageruch gerade nicht Amok läuft ("verbreiten" zu sagen wäre sträfliche Untertreibung), füllt Reformhausdiskontgelüft, geborchen von Krapfenfrittierfett, die kalten Lungen. Und hätte billiges, überteuertes Actionspielzeug einen für uns wahrnehmbaren Eigengeruch, es bräuchte keinen sauren Regen mehr, um die industrialgothischen Verzierungen des Rathauses hinfortzuschmelzen. Auch die Sitte, in den Kolonien - das heißt, den Bundesländern - den ältesten und kräftigsten Baum zu suchen, der ein Jahrhundert weder Wind noch Sturm sich beugte, um ihn zu fällen und als Mahnmal an die Bodenständigkeit am Rathausplatz aufzustellen, scheint mir eher archaisch denn besinnlich.
An diesem Tag, wo ich gedankenlos (ich maße mir an, zu behaupten, sonst ja überhaupt nie dorthin gegangen zu sein) im Rathausplatz wandelte, war meine Laune jedoch - selbstverschuldet - sowieso schon eher schlecht. Zuvor hatte ich schon, und das war wohl einfach Pech, gerade in dieser besinnlichen Zeit eine neue Hose gebraucht und war dafür, und das war wohl nicht bloß Pech, sondern Ignoranz und Idiotie, auf der Mariahilferstraße unterwegs gewesen. Unterwegs, das hat den süßen Klang von Freiheit, von Urlaub fast, und tatsächlich liegt der Realität aber nichts ferner als auch nur der kleinste Hauch positiver Assoziationen.
Wer aufgescheuchte Gnuherden mag, wird Einkaufe auf adventisierten Einkaufsstraßen lieben. Der Rest hingegen, dem Stampeden Kopfschmerzen und Brüche bereiten, wird in Zukunft eher hosenlos durch die Stadt, als Gedankenlos in die Mariahilferstraße schlendern. Ich sage IN, denn ist man einmal in die Straße eingebogen, gibt es kein AUF. Es gibt nur noch MIT. Schlendern, ja, wieder Motionen freiwilliger Natur, gemütlich, gar pausierend: Vergiss es. Die Fortbewegungsgeschwindigkeit entspricht eher einem Castortransport durch eine Grüne Parteizentrale. Alle wollen voran, alle sind im Weg. Ja, die Leute auf der Straße gehen absichtlich so langsam, und a, sie wollen verhindern, dass wir vorwärtskommen. Der Bahn folgend griff ich ins Geschäft geleitet aus dem Augenwinkel quasi nach der ersten, jedoch nicht besten, Hose, denn weder zum Probieren noch zum Stehenbleiben war Platz. Von da an trug ich also ein Papiersäckchen in der Hand, in dem eine Unisexjeans, Größe 22, meine ambitionierten Vorsätze für das neue Jahr sehr optimistisch materialisiert werden ließ. Derart vorbereitet auf den Scrooge der zukünftigen zehn Weihnächte wollte ich es nicht passieren lassen, nüchtern nach Hause zu kommen. So ging ich also, mürrisch und unterkühlt, noch zum Rathausplatz.
Warum nur.
Dennoch, und das war es, was ich eigentlich erzählen wollte, begab sich folgende Szene, die mich den ganzen Trubel und Nippes und Lebkuchenscheiß gar sehr erträglich finden ließ, wenn auch nur für ein kurzes Hoch, das jedoch lang genug anhielt, um den Rest des Tages wieder ein bisschen mehr zu lächeln. Eine Gruppe Idioten, betrunken noch dazu, machte Anstalten, die Stimmung, die herrschte, durch Pöbeleien zu untermauern (bzw. für die meisten vorhandenen wohl zu brechen), um so - so meine Vermutung - Grund zu finden, Irgendwen und -etwas zu schlagen. Rempelnd bewegten sie sich, stinkend tranken sie und lautstark unterhielten sie sich über Themen wie die Figur jeder Frau, sowie die besonderen Merkmale jeder Person, überhaupt. Was man hier Punsch nannte, reicherten sie nicht zu knapp mit einer Flüssigkeit aus einem Flachmann an, hinter der ich eine Mischung aus Testosteron und Charisma-Minus-20-Trank vermutete, die wohl aber Wodka war (sofern man da unterscheiden mag). Wer angerempelt wurde, bekam noch eine Beleidigung, zumindest aber ein forsches "Aufpassen!" mit dazu. Da die Menschendichte es unmöglich machte, sie von weitem zu erspähen, sie selbst aber sich mit der Kontaminierung eines Flecks nicht zufrieden gaben, sondern vielmehr durch nöhlendes Sichfortbewegen ihre Kreise zogen, war es auch schwer, ihnen auszuweichen. Warum bloß war ich hergekommen, fragte ich mich, und das gleiche die Gruppe sich wohl von mir auch, denn wie der Zufall es so wollte, rempelte mich einer der Gruppe an, und sagte: "was machst du denn da mitten im Weg?"
Das wars. Showdown. Ein Tick zuviel für diesen Tag. Es reicht. Ich beschloss, George Carlin im Herzen, mein Leben zur eigenen Unterhaltung hinzugeben, wenn die Welt es denn so wollte. Ich beschloss, meinen Spaß zu haben und sei es zum letzten Mal.
"Das Passwort!", sagte ich gespielt erschrocken.
"Was?", sagte er.
"Ich habe dich gesucht. Du bist zu spät, verdammt!" fuhr ich ihn vorwurfsvoll an.
Der große Betrunkene sah einen Moment verdutzt auf meinen Körper, den ich mich auf einer Intensivstation wiederzufinden innerlich vorbereitete. Jetzt gab es kein zurück. Ich nahm den Papiersack mit der gekaufte Puppenhose, drückte sie ihm an die Brust und sagte "Hier!"
Er starrte mich an. Er nahm die Tasche nicht. Die Verwunderung in seinen Augen schien einer Furcht zu weichen.
"50.000! Kannst nachzählen! Verdammt jetzt NIMM doch endlich!"
Gleich einem Reh, das wartet, dass der Scheinwerfer zuerst blinzelt, stand er da.
"Oh mein Gott", sagte ich, "du bist garnicht..."
Da riss ich die Tasche wieder an mich, und rannte los, drängte mich durch die Massen, ellbogte meinen Weg so weit, bis ich am Ring angekommen mich außer Reichweite fühlte.
Niemand war gestört oder aufmerksam gewesen, ich war am Leben, und das Erinnerungsgold des Raudis Blicks ließ mich noch Tage zehren. Zufrieden legte ich die gestohlene Punschtasse auf die Hose, und stapfte, das warme Leuchten ekelhafter Riten im Rücken, lächelnd nach Hause.

(c) 2008ff
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