Lächeln

Ich habe mir zur Angewohnheit gemacht - nicht werden lassen, denn es war eine freie Entscheidung, und somit kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass es mir nicht passiert ist, sondern ich es gewählt habe - zur Angewohnheit gemacht, auf der Straße alle Menschen freundlich anzulächeln.
Klar, ein jeder von uns lächelt gerne schöne Menschen an, aber ich nahm mir vor, sie alle anzulächeln, jeden einzelnen, in ganz altruistischem Gehabe niemanden auszuschließen aus meiner absurden Lächlerei.
Die nette Dame an der Kassa im Supermarkt, die mich jedes mal um Centbeträge zu bescheißen versucht, ich lächle sie an. Der Mann der dort das Gemüse einschlichtet, ich lächle ihn an. Die Frau, die vor dem Geschäft Hefte über Migrationshintergründe verkaufen möchte, ich lächle sie an - und nicht nur das, auch meine Nachbarn, oder wen auch immer ich auf der Straße treffe, ich lächle ihnen ins Gesicht, und sehe nicht weg, wenn sie mich zurückanstarren. Das kostet natürlich Überwindung, denn der Reflex, von dem ich nicht weiß, woher er kommt, aber den ich vielleicht entweder im zentraleuropäischen Gemüt oder in meiner bürgerlichen Erziehung begründet sehe, ist, so schnell wie möglich in eine andere Richtung zu schauen, ganz so, als hätte ich die Person gar nie erst angesehen. Und auch ganz so, als käme es mir doch nie in den Sinn, einer fremden Person, einer wilden, will ich fast sagen, direkt in die Augen zu sehen. Und an sich hatte mir das nicht in die Augen sehen ja von vornherein erst die Probleme gebracht, die ich davor so hatte. Wohin soll ich denn einem Mädchen in einem Lokal sonst sehen, wenn nicht in die Augen? Und wie den natürlich schrecklich unsittlichen Blick aufs Dekolleté rechtfertigen? Mit Sigmund Freud? Das dauert zu lange. Mit einem kurzem "Na wohin soll ich denn sonst sehen" ist es auch nicht getan, glauben Sie mir. Da waren die Augen eine willkommene Alternative. Doch zurück zum eigentlichen Thema.
Manchmal ziere ich mich noch etwas, zum Beispiel einen Polizisten anzulächeln, denn wer weiß, was der sich dann von mir denkt - doch mindestens bei allen Leuten, bei denen mir egal ist, was sie von mir halten, bin ich konsequent. Straßenbahnfahrer, die mir vor der Nase davonrasen, Leute, die verdutzt aus der Auslagenscheibe eines Restaurants blicken, Personen, die ich an Haltestellen antreffe - ich bin schon richtig gut darin, Menschen freundlich anzusehen. Und dann geschah merkwürdiges:
Die Leute, die ich jahrelang verachtet habe, wegen ihrer engstirnigen Minimetropolistischen Idiotenmeinung, ihrem Wahlrecht und dem daraus resultierenden Wahlergebnis alle paar Jahre, die hässlichen Frauen in Pelz, nun, sobald das ganze Gesocks, dass sich in dieser Stadt zu Hause fühlt nach kurzen Schrecksekunden damit abgefunden hat, jetzt plötzlich ohne Grund nicht unfreundlich behandelt zu werden - es überlegt. Es fragt sich - kenn ich den? Büro, Weihnachtsfeier, nein... Vielleicht der Neffe von... nein... ah! der Postbote? Nein... vom Pizzaservice? verdammt, wieso lächelt er mich an? Diese Sekunden sind die schönsten. Wenn sie sich nicht trauen wegzusehen, weil sie mich ja damit vielleicht vergrämten, und mich aber nicht ansehen wollen, weil sie mich ja nicht kennen.Und dann passiert eines von zwei Dingen: entweder, der Reflex der Person überwiegt, und sie sieht zu Boden, oder schaut den Tauben nach, oder kramt in ihrer Tasche herum, oder dreht sich um und tut so, als hätte sie etwas gesehen oder gehört, was ihre Aufmerksamkeit verlangt - ganz so, wie ich es von mir selbst kannte; Oder - und hier sah ich ein Wunder geschehen - sie lächeln zurück.
Verdammt, dachte ich, was mach ich jetzt? Schnell auf den Boden schauen. Oder auf die Tauben. Oder in meinen Taschen rumkramen. Wo ist mein Handy? Vielleicht kann ich so tun als bekäme ich einen wichtigen Anruf?

Ja, es ist ein holpriger Weg zum grundlos freundlichen Menschen, und ich kämpfe noch immer mit mir. Doch mittlerweile bin ich schon so weit, dass sich einmal folgendes begeben hat, und das war, was ich eigentlich erzählen wollte. Immer wieder lächle ich eben die Menschen an, und immer öfter lächeln sie auch zurück. Und hin und wieder, sagen sie dann etwas - beschweren sich, dass die Straßenbahn nicht pünktlich kommt, sagen dann vielleicht noch wo sie hin wollen, hin müssen, was es dort zu tun gibt und alles andere sonst noch. Sie haben plötzlich Vertrauen, anscheinend hebt der Lächelnde sich ab, in solchem Maße, dass man ihm erzählt, was anderen verheimlicht wird. Mehr noch, vielleicht ist ihnen wichtig, sich anvertrauen zu können, nicht allein zu sein. Und dem Lächelnden erzählt man lieber, man schenkt ihm vielleicht etwas privates, am Ende gar als Gegenleistung für die unbegründete Freundlichkeit? Fühlt man sich schuldig und ertappt, wenn ein Fremder einen anlächelt? Man kommt jedenfalls in Gespräche, wenn man zu Leuten nett ist. Und im Lächeln sehen die Leute diese Freundlichkeit. Mit Lächeln kann man also ALLES überbieten, was wir Wiener an Freundlichkeit gewohnt sind.
Letztens stand ich an der Haltestelle und wartete auf den D-Wagen, als neben mir eine ältere Frau stand, es war dunkel und kalt, sie trug einen Hut und einen Pelzmantel, und ich lächelte sie freundlich an. Erst nach kurzer Zeit bemerkte sie das, und sah mich ihrerseits nun an - und das, zu meinem Erstaunen, noch dazu genau so freundlich und herzlich, wie ich es ihr vorgelegt hatte. Wir warteten schon 15 Minuten auf die Straßenbahn, die in dieser Spanne schon zwei mal hätte fahren sollen.
"Ein Wahnsinn ist das, als ob ich keinen wichtigen Termin hätte. Und wieder werde ich zu spät kommen", eröffnete sie das Gespräch.
"Wenigstens ist das Wetter nicht schlecht", sagte ich zynisch in den Schneeregen, doch das verstand sie nicht.
"Also mir gefällt das Wetter gar nicht", sagte sie, "und zu spät komme ich nicht gern zu Chorprobe, wissen Sie? Das ist mir unangenehm. Aber wenigstens nicht so tragisch. Doch manchmal muss ich schnell nach Hause mit den Einkäufen, weil man wartet ja nicht gern lang aufs Essen, besonders, wenn ich Gäste habe ist das peinlich, ich muss dann ja auch vorbereiten, Tisch decken, und so weiter. Ich setz ja nicht nur Kaffee auf und stell Kekse hin, wissen Sie?" - "Nicht?" fragte ich möglichst einsilbig, um ihre Rede nicht zu unterbrechen. "Nein, das ist doch keine Art. Ich mach schon immer ein ordentliches Essen, mit Lachs, und darauf Gemüse und darauf Trockenfutter." Ich wunderte mich kurz, und hörte aber weiter zu. "Nun, das soll ja schön aussehen auch, das Auge isst ja mit. Auch wenn er aus Ungarn kommt, der Arme. Ein Straßenkind, wissen Sie? Das war vielleicht ein Kampf, mit den Behörden! Aber er hat dann noch vor Ort alle Impfungen bekommen, und jetzt ist er bei mir."
Langsam dämmerte mir, dass "er" wohl nicht ihr Mann oder Adoptivsohn war. Die Dame hatte ihre Verwirrung gekonnt auf mich übertragen. Und verwirrt war sie, soviel stand für mich fest. Wir saßen schon längst im D-Wagen, sie erzählte dann noch von den Liedern, die gerade geprobt wurden, und mehr und mehr von ihrem Hund, ein Mischling war es, ein ganz lieber. Und sie fragte mich, was ich den so treibe, studieren, antwortete ich, Philosophie. Um am Arbeitsmarkt nicht ganz nackt dazustehen. Doch auch das verstand sie nicht. Wenige Stationen später stieg sie aus, ich blieb noch sitzen. Ich wagte nicht zu fragen, was sie mit den Gästen, für die sie kocht gemeint hatte.Vielleicht war der Hund importiert, um kredenzt zu werden? Vielleicht umgekehrt die Gäste hierzu eingeladen? Ich fragte nicht, und dann war es zu spät. Doch egal wie die Antwort auch ausgefallen wäre, es hätte nichts an dem schönen Bild geändert, dass sich in meinem Kopf gebildet hatte: Und wenn ich manchmal noch an die nette, verwirrte, kynophile, chorsingende Dame zurückdenke, deren Namen ich bis heute noch nicht weiß - und meistens denke ich an sie, wenn ich auf der Mariahilferstraße an den Leuten mit Bier in der Hand und Hund vor den Füßen vorbeigehe, dass die bürgerlich-rechte Zielgruppe der "Kronen Zeitung" und die aktivistischen Kampfveganer dann vielleicht doch ein gemeinsames Ziel verfolgen, den Tierschutz. Und wenn mich dieser Gedanke schmunzeln lässt, habe ich wieder Kraft, den nächsten Fremden anzulächeln.

(c) 2008ff
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