Nach dem Begräbnis

An der Umgebung erkannte Jonas recht bald, dass er träumte. Die Stube und die Großmutter darin, an der er vorbei zog, die ihm unverständliches nachrief. Und dann in dem Zimmer. Und Vanessa saß da. Von allen Menschen auf der Welt. Vanessa saß vor ihm, ihm auch Nachts keine Ruhe gönnend. Er griff nach ihrer Hand. Sie zog sie weg. Er wollte sie mit einem Kuss begrüßen. Sie ertrug es steinern. Er setzte sich ihr gegenüber. Sie sah auf den Boden. Dann sah sie ihm in die Augen. Es war dunkler, als wären Stunden vergangen und hätten den Tag vorbeiziehen lassen. Vor dem Fenster schrie jemand, aber so weit entfernt, dass man nichts verstand.

"Warum liebst du mich? Wegen der Aufmerksamkeit? Weil ich schön bin? Kannst du schon etwas lieben, abgesehen von meinem Körper?"
"Ich liebe, was du in meinem Kopf machst. Ich liebe das Gefühl, dass du auslöst."
"Hat das etwas mit mir zu tun? Ist da irgendetwas, was du von mir liebst?"
"Woher soll ich das wissen? Ich kenne dich viel zu wenig. Ich kenne dich fast gar nicht."
"Und was ist das dann, was wir machen? Was ist das, was du glaubst in mir zu sehen?"
"Verständnis. Ich fühle ein Verständnis und ich fühle ein Begehren."
"Ein Begehren? Aber ich begehre dich nicht."
"Kannst du das schon so klar sagen?"
"Weil ich dich nicht kenne, meinst du?"
"Ja."
"Dein Begehren ist asymmetrisch. Du begehrst etwas, von dem du glaubst, dass ich es habe. Ich hab aber kein Verlangen nach dem, was du mir zeigst. Ich begehre deinen Körper nicht. Ich habe mich nicht in dich verliebt. Ich will nicht mit dir schlafen."
"Und wieso redest du dann mit mir? Du könntest mir doch auch einfach nicht antworten."
"Antworte ich dir?"
"Wir haben lange geredet!"
"Hast du mir dabei zugehört? Hast du verstanden, was ich gesagt habe?"
"Ja. Ich glaube schon."
"Was sage ich dir denn?"
"Du... du sagst mir nichts. Wären es Verhandlungen, die wir über etwas führen, du würdest zurückgelehnt am Ende des Tisches sitzen und mir ein gutes Gefühl geben, während ich mich zum Hampelmann mache. Würdest Dinge sagen, die ich als Zugeständnisse verstehe, die aber keine sind."
"Ich verkaufe aber nichts."
"Du gibst auch nicht viel."
"Du lässt mir keinen Raum, um etwas zu geben. Du nimmst so viel, ohne abzuwarten, was du bekommst.
Und wenn ich dir etwas gebe, dann verschlingst du es sofort. Du schlingst es herunter und verlangst nach mehr und mehr und mehr. Wenn ich dir etwas gebe, feuert es für eine Sekunde deinen Hochofen an, und dann glüht er wieder, verzehrend und rücksichtslos. Was soll ich dir geben? Du hast doch nichts davon. Du verschlingst nur alles. Du kannst nichts genießen, was passiert, und kannst nichts annehmen, weil du es sofort verbraucht hast. Du willst immer nur mehr und mehr und mehr und hast am Ende gar nichts."
"Aber wieso gibst du mir dann das wenige?"
"Du verstehst das falsch. Ich gebe dir gar nichts. Du saugst alle Radiowellen, die von mir ausgehen, auf, und glaubst, sie waren geheime Botschaften an dich. Du glaubst, dass ich mit dir rede. Du hörst gar nicht, was ich sage. Du nimmst und nimmst an. Die Basis dafür ist nur deine Projektion. Es hat nichts mit mir zu tun, was du machst. Und es hat nichts mit dir zu tun, was ich mache."
"Ist das eine Entscheidung?"
"Du nimmst mir die Entscheidung ab. Du handelst, als hätte ich entschieden. Ich brauche mich nicht entscheiden, wenn du das schon für mich gemacht hast."
"Ich will nicht so sein."
"Dann ändere dich. Aber du musst wissen, dass das wieder nichts mit mir zu tun hat. Du änderst dich vielleicht, ja, vielleicht ja wirklich, aber deswegen werde ich dich nicht attraktiv finden. Du hast den Moment überschritten, wo ich mich auf dich einlassen wollte."
"Die Zeit ist weiter gezogen?"
"Die Zeit zieht immer weiter"
"Ich hab dich verloren."
"Du hast mich nie gehabt."
"Hätte ich dich interessieren können? Zu irgendeinem Zeitpunkt?"
"Du bist vielleicht ein Idiot. Wir haben vielleicht vier Stunden geredet. Was für einen Zeitpunkt meinst du? Als ich dich zum Abschied auf die Wange küssen wollte, und du verklemmt zusammengezuckt bist?

Du interessierst mich, aber du ziehst Schlüsse und Aktionen daraus, und das ist nicht fair. Du lässt mich nicht ich sein. Du lässt mich nicht deine Projektionen abbauen, sollte ich das überhaupt wollen. Und ich habe überhaupt keine Lust, dir deine Projektionen abzubauen."
"Würdest du das wollen?"
lacht. "Deine Projektionen abbauen? Wozu? Warum sollte ich das wollen?"
"Ich weiß es nicht."

Jonas wachte auf. Es war mitten in der Nacht. Er sprang blind aus dem Bett, stürzte zum Tisch. Er kramte nach einem Stift, nach Papier. Er kritzelte mit zitternder Hand auf den Zettel. Nie gehabt. Attraktiv. Überschritten. Er legte sich wieder ins Bett.

Am nächsten Morgen hatte er keine Ahnung, was die Wörter bedeuteten. Nur Vanessa spukte noch in seinem Kopf, als er die Laudes aufschlug.

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