Der Witwer

Die Kinder wollten dem Sarg noch beim Sinken zusehen, und wieso auch nicht. Sie fühlten sich nicht traurig, sie hatten nicht so den Bezug. Sie waren hauptsächlich neugierig. Die Sargträger wollten endlich nach Hause, aber aus irgendeinem Grund dürfen Kinder nicht sehen, wie die Erde auf den Sarg geschüttet wird. Deswegen müssen die Sargträger warten, bis die Kinder weg sind. Die Kinder aber wollten sehen, wie der Sarg begraben wird. Sie sind schließlich zu einem Begräbnis gekommen. Das war Betrug. Bis jetzt war nicht mehr passiert, als dass eine Holzkiste in ein Loch versenkt wurde. Wo war der Begraben-Teil der Sache? Pattsituation. Alles ließ einen Film vermuten, eine unaussprechliche Leichtigkeit hing über der Schwere des Anlasses. Niemand wollte die Kinder zu recht weisen, und wieso auch. Der Witwer war schon voraus gegangen, er hatte der Toten nichts mehr zu sagen, doch, noch so viel, aber nicht jetzt. Nicht hier. Ein Tisch war reserviert. Es war Zeit, betrunken zu werden. Mit dem Trommeln der Klümpchen und Steinchen auf den zwei Meter vertieften Deckel im Hintergrund, spielten die Kinder Prozession. Das hätten sie gerne gesehen. Die Tante war immer so hübsch.
Angehörige, Freunde und Bekannte füllten die Sessel und hielten einen Kellner und eine Kellnerin an, Gläser zu füllen. Ein junger Erwachsener, dessen erstes Begräbnis das war, wusste nicht, dass der Witwer die Rechnung bezahlt, und bestellte daher nur ein kleines Bier, die Preise sind etwas hoch.
Die Kinder hatten ihren eigenen Tisch, sie haben fast ein bisschen zu viel Spaß, dachten sich einige, aber sie sagten nichts, sie wollen den Kindern die Angst vor dem Tod nicht einpflanzen, und wieso auch, wenn sie ihr doch schon so lange entkommen konnten. Woher man schwarze Anzüge in dieser Größe bekommt, und wieso man so etwas bezahlen sollte, fragten sich wenige. So oft stirbt doch auch niemand. Das Trinken lockerte, Runde für Runde, die eng geschnürten Trauergewänder. Bald schlich sich, von den Kindern angeschraubt, ein Scherz in die Erwachsenenrunde. Dann wieder Betretenheit und kurzes Schweigen. Smalltalk füllte die Lücken gekonnt. Wie gelernt schmierten sich die Banalitäten in die kleinen Löcher, die der Sturm von Erdenregen nicht auffüllen konnte. Die Eltern bereuten, dass sie die Kinder kein Spielzeug mitbringen ließen, denn langsam nervten sie mit ihrer Fröhlichkeit. Doch es schien so eine schlechte Idee zu sein, Spielzeug zu einem Begräbnis… Zur Rettung wies eine Kellnerin darauf hin, dass es hier Spielzeug gibt, und kam mit ein paar Plastikfiguren und Holzklötzen zurück. Langsam lösten sich die Sakkos von den Schultern und wärmten von nun an Sessellehnen. Irgendwo wurden sogar Ärmel hochgekrempelt. Schwer erschüttert waren wenige gewesen. Der Krebs war zwar zu spät diagnostiziert worden, um etwas dagegen zu tun, aber früh genug, um abschließen zu können. Niemand war mehr überrascht, als es geschah, aber alle waren traurig. Zu jung ist man doch immer, wenn es vorbei ist, aber manchmal ist der Zeitpunkt zynisch. Am Hochzeitstag draufgehen, das hätte dann auch wieder nicht sein müssen. "Der Arme. Naja, ihr ist es ja jetzt auch schon egal." Die Kommunikationsdynamik warf den Satz inmitten von Stille, wo er doch dazu vorgesehen war, im Gemurmel unterzugehen. So hatte der Arme ihn aber gehört und war wieder so traurig. Das Schweigen wurde betreten. Kein Abspann erlöste, das Leben ging weiter. Aber ohne sie. Die Kinder spielten mit den Pappdeckeln Erde trommeln. Lockt das eigentlich Regenwürmer an? Psst, jetzt nicht. Eine Runde ging noch. "Wenigstens war gutes Wetter, nichts ist grauslicher als ein Begräbnis bei Regen oder Hitze." – "Ich finde Begräbnisse grundsätzlich nicht so attraktiv." – Die Kommunikationsdynamik fiel auch diesem Satz in den Rücken. Der Witwer kippte sein Glas, stand auf und ging vor die Türe eine Zigarette rauchen. "Was macht man jetzt mit dem anderen Ehering?" Gute Frage. Kein Erwachsener konnte sie beantworten. Den Eltern aber war diese Frage das Schäufelchen zu viel. Sie gingen mit den Kindern kurz nach hinten, und sprachen ernste Wörtchen. Die Kinder fühlten sich schlecht, wussten aber nicht genau wieso. Die Eltern versuchten zu erklären.
Vor der Lokaltüre zündete sich der Witwer die zweite Zigarette an. Neben ihm standen zwei Personen, die sich aus der schwarzen Krawatte nichts zu reimen vermochten, und wieso auch. Sie fragten ihn jedenfalls aber nach einer Zigarette. Klar, er hält ihnen die Schachtel hin. Ob da drin irgendeine Feier wäre, wollte die eine Person wissen. Wegen der Anzüge. Der Witwer wollte eigentlich nichts erklären. Er tat es so einsilbig wie möglich und tat bewusst uninteressiert, um weitere Fragen zu ertränken. Er wäre gerne nicht hier oder jetzt gewesen. Er hätte gerne so viel Zeit wieder zurück gehabt. So viel ungenutzte Zeit, die man gemeinsam verbringen hätte können. Jetzt ist es dafür zu spät. Er hatte irgendwann einmal, noch bevor er verheiratet war, darüber nachgedacht, was wäre, wenn seine Partnerin stirbt. Er kam zu dem Schluss, dass sie zuerst sterben solle. Schließlich wäre es nur Egoismus, würde man dem Partner das Leid der Einsamkeit aufzwingen. Wer tot ist, ist ja nicht mehr einsam. Einsamkeit muss schlimmer sein als Tod. Es war nur so in die Wolken gedacht, aber jetzt schien es ihm, als wäre ein tragischer Wunsch in Erfüllung gegangen. Er konnte sich nicht aufraffen, jetzt auch noch dankbar zu sein. Er drückte die Spitze seines Schuhs auf den glimmenden Filter, rieb sich die wohl bald wund geriebenen Augen ein weiteres Mal und betrat wieder das Lokal, bestellte beim Kellner eine Runde Sekt, um sich bei den Anwesenden zu bedanken und auf seine Frau anzustoßen. Die Kinder bauten ein Haus aus Holzklötzen, sie waren begeistert von dem nicht-elektronischen Spielzeug und gaben, in einer Randbemerkung, den Eltern einen verfrühten Wunsch ans Christkind mit. Die vielen Menschen konnten dem Witwer seine Einsamkeit nicht nehmen, und wieso auch. Das Leben wird weitergehen.

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